Es beginnt ganz harmlos: Der seit sechs Monaten im Ruhestand lebende Harold erhält einen Brief, aus dem er erfährt, dass eine ehemalige Kollegin schwer erkrankt ist. Er ist erschüttert. Will einen Antwortbrief verfassen. Über ein paar nichtssagende Zeilen kommt er nicht hinaus. Aber diesen Brief will er nun in einen Briefkasten stecken. Er verlässt das Haus, in dem seine Frau schon wieder zu putzen begonnen hat, schwatzt kurz mit dem Nachbarn und geht zum Briefkasten. Geht am Briefkasten vorbei. Geht am nächsten Briefkasten vorbei. Über dem Beobachten und Nachdenken, in das ihn das Beobachtete zieht, lässt er Briefkästen und Post hinter sich. Er ist bei einer zentralen Frage angelangt: Wer bin ich?
Klingt erst mal skurril nicht wahr? So beginnt das Buch von Rachel Joyce – ein bisschen skurril und sehr liebenswert. Das Gespräch mit einem jungen Mädchen über Krankheit und Heilung veranlasst Harold nun, den Weg zu der kranken Kollegin, nein: Freundin, unter die Füße zu nehmen – vom Südosten Englands bis in den Nordwesten, rund 1000 Kilimeter. Ohne Handy, aber mit Geldbörse und Kreditkarte. Er ruft seine Frau an, um ihr zu erklären, was er vorhat. Sie hält ihn für übergeschnappt und moniert, dass er damit das ersparte Geld vergeudet. Er geht trotzdem. Er erzählt allen von seinem Plan, die ihm begegnen. Die Raktionen sind sehr gemischt: skeptisch, amüsiert oder begeistert. Er lässt sich auf Gespräche mit Wildfremden ein, erfährt Geschichten, die man normalerweise niemandem erzählt und beschließt, über niemanden zu urteilen.
Während er in seinem unzureichenden Schuhwerk dahingeht, tauchen Erinnerungen auf. Erinnerungen, die schmerzen. Manche sind auch nett, aber die meisten schmerzen.
Parallel erzählt Rachel Joyce von Maureen, der Ehefrau, die zu Hause erst einmal so tut, als sei Harold krank und im Bett, die einen Arzt aufsucht, um herauszufinden, ob man ihn – also Harold – nicht stoppen kann. Auch bei ihr geben sich die Erinnerungen ein Stelldichein. Auch ihre Erinnerungen sind nicht rosig.
So entsteht peu à peu das Bild einer Ehe voller Verletzungen und Missveständnisse. Harold geht indessen immer weiter. Er hat die Geldbörse und die Kreditkarte per Post an Maureen geschickt und schnorrt sich durch. Er begegnet immer wieder Menschen, die ihm weiter helfen. Er begegnet auch einem Journalisten, der seine Geschichte in einer Zeitung bringt. Mit ungeahnten Folgen!
Harold geht und geht und geht – teilweise unter großen Schmerzen. Maureen putzt erst noch, dann erzählt sie dem Nachbarn von Harolds Wanderschaft; beide reisen ihm hinterher und teffen einen anderen Harold als sie bisher kannten. Da sind wir aber erst in der Mitte des Buches!
Die Wanderschaft geht weiter. Die Gedanken, die Erinnerungen gehen weiter. Und dann ist die Geschichte nicht einfach nur nett und ein bisschen skurril. Harold geht bis an seine Grenzen und darüber hinaus. Der verdreckte alte Mann, der in Schottland ankommt, hat keine Ähnlichkeit mehr mit dem Rentner aus dem blitzblanken Häuschen am Anfang oder dem Wanderer in der Mitte.
Auch Maureen ändert sich.
Und was ist mit der kranken Freundin?
Den dreien auf ihrem Weg zu folgen, ist nicht einfach. Aber lohnend.
Rachel Joyce: Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry, Krüger, Frankfurt/Main 2012, übersetzt von Maria Andreas, ISBN: 9783810510792
Rezensionen ab Mai 2013 erscheinen in meinem Literaturblog Kölner-Leselust.de.
Luchen
Verletzungen gehen wir doch alle lieber aus dem Weg, oder? Aber lesen kann ich das Buch ja trotzdem mal 😉