Der Anfang ist beunruhigend:
Seine Kinder fallen vom Himmel.
Der erste Satz. Die Situation: Thomas Cromwell ist mit seinem König Henry VIII auf der Jagd. Er hat seine Falken nach seinen verstorbenen Töchtern, nach seiner Frau und seinen Schwestern benannt …
Da wird sofort der warme Fleck in Cromwells Herzen sichtbar – im Herzen des Mannes, der als kühler Rechner gilt, als Strippenzieher der Politik. Alles zum Wohle Englands, zum Wohle Henrys – und zum eigenen. Aber das ist er eben nicht nur.
Diese Fortsetzung von „Wölfe“ heißt im Original „Bring up the Bodies“ – eine Rechtsformel, mit der in der Tudorzeit Menschen ins Gewahrsam genommen wurden, bevor ein Prozess begann; im Gegensatz zu den Falkenszene fällt der Satz erst gegen Ende des Buches.
Wie in „Wolf Hall“ – so der Originaltitel von „Wölfe“, betitelt nach dem Familiensitz der Seymours, wo „Wölfe“ endet und „Falken“ beginnt – steht Thomas Cromwel im Mittelpunkt; beide Bücher sind Teile einer geplanten Trilogie zu Aufstieg und Fall dieses mächtigen Mannes. Seine Gedanken in der Zeit des einen Jahres der Handlung – September 1535 bis Sommer 1536 – führen die Leserin durch die bekannten Ereignisse der Zeit, als Anne Boleyn ihrem Ende entgegengeht. Seine Gedanken mehr als seine Taten: Cromwell taxiert alles und jeden in seinem Umfeld und in dem des Königs. Er weiß, wie die unterschiedlichen Familien miteinander verwandt und verfeindet sind. Er berechnet die Folgen ihrer Handlungen oder wie er sie beeinflussen kann. Er weiß, auf welch dünnem Eis er selber sich bewegt – Schmiedesohn aus Putney mit unklarer Laufbahn, der er nun mal ist. Sein Aufstieg und der Anne Boleyns hängen zusammen – er will aber nicht mit ihr zusammen stürzen.
Erstaunlicherweise erfährt man hier im zweiten Band mehr über seine Kampf- und Wanderjahre als im ersten Band, wo sie ja zeitlich hingehören. Seine Zuneigung zu seiner Familie – Blutsverwandte und Wahlfamilie – ist das Gegengewicht zu seinem rationalen Vorgehen bei Hof. Cromwell ist eine faszinierende Persönlichkeit – Hilary Mantel macht ihn lebendig. Was da historisch passiert – mit Anne Boleyn und einigen Lords und adligen Herren – das kann die Autorin nicht verändern. Sie lässt uns die Ereignisse aber durch die Augen Cromwells sehen – die subjektive Sicht auf verworrene Umstände und widersprüchliche Aussagen der Zeitzeugen. Das macht Hilary Mantel großartig – die Mischung von Innen- und Außensicht verleiht ihrer Darstellung Zug und Tiefe.
Vielleicht habe ich mich an die merkwürdige Zeichensetzung gewöhnt – jedefalls hatte ich bei diesem zweiten Band den Eindruck, dass es doch mehr Anführungszeichen gab, was in meinen Augen die Lektüre durchaus erleichterte.
Hilary Mantel: Falken, Dumont Buchverlag Köln, 2013, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, ISBN: 978-3832196981
Der dritte Band „The Mirror and the Light“ ist übrigens für 2015 (nun ja – inzwischen ist 2019 angedacht – 5.9.2018) geplant … (Mal sehen, welche Tiere dann im deutschen Titel auftauchen 😉 )
Antwort auf die oben gestellt Frage: Keine. Jetzt, 2020, ist das Buch unter dem Titel „Licht und Spiegel“ erschienen. Die Rezension dazu lesen Sie dann auf der Kölner Leselust. (27.5.2020)
Rezensionen ab Mai 2013 erscheinen in meinem Literaturblog Kölner-Leselust.de.
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