Das Leben ist groß von Jennifer duBois

Veröffentlicht in: Buchbesprechung, Bücher, Kulturelles | 3

Chorea Huntingdon – die Diagnose, die Irinas Leben verändert. Noch ist die Krankheit nicht ausgebrochen. Aber wenn sie ausbricht, weiß Irina, was ihr bevorsteht, denn sie hat das zwanzig Jahre lang bei ihrem Vater beobachtet: Diese Krankheit nimmt ihren Opfern jede Würde. Ein bisschen Zeit bleibt ihr noch – 32 Jahre wird sie sein, wenn die ersten Symptome auftauchen, lautet die Prognose.

Nach dem Tod ihres Vaters räumt sie ihr Elternhaus aus und stößt dabei auf eine Kiste mit Zeitungsausschnitten – Artikel über den damals jungen Schachspieler Alexander Besetow. Ihr Vater hat dessen Laufbahn – so lange er dazu in der Lage war – genau verfolgt. Und er hat damals einen Brief an den Schachmeister geschrieben: Was tut er, wenn er sieht, dass eine Niederlage unausweichlich ist?

Diese Frage ist Irinas Frage: Ihre Niederlage ist unausweichlich, denn wer die genetische Disposition zu Chorea Huntington hat, bekommt die Krankheit auch.

Eine Antwort Alexanders findet Irina nicht. Sie will aber eine haben. Deshalb reist sie nach Petersburg und sucht Alexander Besetow, der inzwischen – es ist 2006 – als Präsidentschaftskandidat gegen Putin aufgestellt werden will.

Neben dem Handlungsstrang, in dem Irina ihre Entscheidungen angesichts eines Schicksals trifft, das sie nur zu genau kennt, gibt es einen zweiten Strang – wie Alexander als junger Mensch nach Leningrad kommt, um die Schachakademie zu besuchen. Mit seiner Ankunft dort 1979 beginnt das Buch. Jennifer duBois beschreibt das Leben in der Sowjetunion der späten 70er und frühen 80er Jahre eindringlich – die Niedegeschlagenheit, das Misstrauen, den Mangel.

Es ist ein Buch, das mitnimmt, das mit hinein nimmt in politische Wirren, in Angst vor Krankheit und dem Verlust des eigenen Ichs, in die simplicissimusartige Sicht des jugendlichen Alexander und in seinen Hass auf den Machtmissbrauch Putins. Schach spielt eine Rolle – für Alexander sowieso, aber auch das erste, was ich von Irina erfahre, ist ihr erstes gewonnenes Schachspiel gegen ihren Vater. Das war der Anfang von seinem Ende als geistreicher, gebildeter Mann. Als Alexander und Irina sich kennenlernen, sagt er ihr, dass Schach ihn langweile. Der letzte ebenbürtige Gegner? Ein Computer … Und dann kommt so ein Satz, der haften bleibt:

Großes Schach als eleganteste Errungenschaft des menschlichen Geistes gab es nicht  mehr; die wahre Leistung bestand darin, etwas Größeres und Besseres zu erschaffen als sich selbst und ihm staunend zuzusehen.

Worauf es ankommt im Leben im Angesicht einer unausweichlichen Niederlage – das ist die Grundfrage des Romans. Jennifer duBois ist ein wunderbares Debut gelungen, sprachlich und inhaltlich. Ich kann das Buch nur rundum empfehlen.

Jennifer duBois: Das Leben ist groß, Aufbau Verlag Berlin, 2013, ISBN: 9783351035198

Rezensionen ab Mai 2013 erscheinen in meinem Literaturblog Kölner-Leselust.de.

3 Antworten

    • Recherche-Meisterin

      Recht hast Du … Und deshalb habe ich die Übersetzerinnen bei allen Rezensionen seit Dezember 2011 ergänzt.

      • anglogermantranslations

        Bravo! 🙂 Meistens reagieren Blogger sehr unwirsch auf meinen Hinweis. (Wenn die wüssten, wie viele Prozesse schon wegen der Nichtnennung gegen Verlage geführt wurden.)

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